KT 12.12.11 – TOP 19
Brigitte Harth
Wir wollen mit diesem Expertengespräch einen Stein ins Rollen bringen. Wir wollen einen Anstoß geben für eine breite Diskussion über die Pflege im Alter und über würdevolles Leben im Alter.
Zum Hintergrund: Bei der September-Sitzung des GGSA sind wir über die Entwicklung stationärer Pflegeinrichtungen im Landkreis informiert worden, und dabei wurden Zahlen vorgelegt, die uns alarmiert haben: Bisher gibt es gut 1.400 Pflegeplätze im Kreis, bis Ende 2012/2013 soll es 2.400 Plätze geben. Der entstehende „Heim-Sog-Effekt“ wird voraussichtlich dazu führen, dass die Quote der vollstationären Pflege deutlich wachsen wird. Dies wird nicht nur finanzielle Konsequenzen haben. Noch drängender ist die Frage, ob dies denn konzeptionell gute und politisch gewollte Lösungen sind.
Davon allerdings können wir nicht ausgehen; es wird sich bei den Neubauten zum großen Teil wohl um klassische Altenpflegeheime der 3. Generation handeln, mit Großküchen und Wohnheimcharakter im herkömmlichen Sinne. Verrückt daran ist, dass das eigentlich niemand will und dass seit vielen Jahren in der Fachwelt bekannt ist, dass es bessere Lösungen gibt.
Wünschenswert für den Kreis und für die Kreisbewohner ist eine möglichst breite Palette an Wohn- und Lebensmöglichkeiten bei Pflegebedürftigkeit. Das reicht von:
- Vollstationärer Pflege in möglichst unterschiedlichen Pflegeformen mit stationären Hausgemeinschaften, Pflegeoasen für MmD, 3-Welten-Modell etc.,
- Selbstorganisierten Wohnformen inkl. Pflege- und Demenzwohngemeinschaften bis zu
- Möglichst langem Verbleib in den eigenen 4 Wänden! Unterstützende Strukturen sind dafür notwendig: Wohnberatung, Tagespflegeeinrichtungen, Modelle für Wohnen im Quartier, unterstützt durch bürgerschaftliches Engagement.
Das Problem bei allen neueren Modellen von Pflege-WGs hin zu Wohnen im Quartier: Sie verlangen mehr Eigeninitiative der Betroffenen, sie kosten teilweise sogar mehr Geld als das klassische Heim (Demenz-WG z. B.) und sie erfahren oft noch wenig gesellschaftliche Unterstützung, weil Förderstrukturen fehlen, aber auch ein breiteres Bewusstsein in unserer Bevölkerung.
Ich will das am Beispiel Demenz-WG verdeutlichen: 9 – 12 demente Menschen, alle mit Pflegestufe von 1 – 3, leben in einer WG und werden von einem ambulanten Pflegedienst, den die Angehörigen gemeinsam auswählen, rund um die Uhr betreut. Für die Aufbauphase einer solchen WG braucht man einiges an finanziellen Mitteln, da müssen Stiftungsmittel eingeworben und Spenden akquiriert werden; zudem gibt es in Hessen keinerlei Strukturen, die beim Aufbau solcher WGs unterstützen und beraten (anders als in anderen Bundesländern). Und zu guter Letzt bedeutet eine Demenz- WG für den Generalmieter ein erhebliches finanzielles Risiko, das privat geschultert wird.
Für alle diese neuen Modelle braucht man also nicht nur einfach einen Investor, sondern
- ein gesellschaftliches Bewusstsein und Akzeptanz für neue Wohn- und Pflegeformen,
- die Unterstützung von Kreis und Kommunen (vielleicht sogar Förderstrukturen für neue Wohn- und Pflegemodelle wie z. B. Interessentenbörsen, aber auch Baugenossenschaften, die solche Modelle fördern)
- viel Engagement und Interesse der Fachwelt und
- sehr viel bürgerschaftliches Engagement!
Der Weg zur Entwicklung solcher neuen Wohn- und Pflegemodellen ist also kein einfacher; wir hoffen aber, dass mit diesem Expertengespräch ein Anfang gemacht wird.